Bernhard von Oberg
Pirschgang durch die Jahrtausende / Vom Holozän ins Pleistozän / Die mit Abstand älteste Speisekarte der Welt
ARKEBEK. Spätestens mit Beginn der Bauernsteinzeit, so die allgemeine Lesart, habe der Mensch aufgehört, die Jagd als reine Lebensnotwendigkeit zu betreiben und eine Kultur daraus gemacht. Der Arkebeker Tiermaler und Tierpräparator Rainer Schmidt (50 Jagdjahre) datiert das Welt-Jagdkulturerbe weit früher. Für ihn setzt die Jagdkultur ein mit den 30.000 Jahre alten Höhlenzeichnungen, der Beutekunst nach Cro-Magnonart. Schmidt: "Der jagdausübende Cro-Magnon hat uns seine Bruchzeichen hinterlassen. Wir müssen sie nur lesen."
Mit Dinte und Saufeder
So wie mit einem passenden Wort von Goethe so manches Grußwort, so beginnt mit der Jagd die Kulturgeschichte des Menschen. Bekannt ist, dass der Altmeister aus Weimar ein sehr aktives jagdliches Leben geführt hat. Der tägliche Umgang mit der "Dinte" war ihm ebenso vertraut wie die waidmännische Handhabung einer Saufeder.
Ansonsten hätte er sich, so Goethe über Goethe, "mit dem Weltanscheuungshorizont einer Seidenraupe an einem mitteldeutschen Provinzfürstenhof eingesponnen". Erst das Waidwerk lässt die Persönlichkeit reifen. War für Heraklit "Krieg der Vater aller Dinge" identifiziert der große Dichter und Denker die "Jagd als Mutter der Kultur".
Ohne zu zögern ging Goethe mit beiden Händen am Fangeisenstiel auf einen starken Keiler zu, der ihn sofort annahm. Der adelige Waidmann zielte mit dem kalten Eisen zwischen Hals und Blatt nach der Herzkammer. Er kannte den Adrenalinstoß, wenn das Eisen in einem angehenden Schwein unter der Feder weg bricht. Für Goethe gilt: "Jagd ist Leitkultur."
Für Jäger-Goethe-Kenner Professor Dr. Gerd Rohmann ist die Sache klar: Die Jagd, sagt er, hat unser aller Denken kulturevolutiv geformt.
Die ersten Künstler waren Jäger
Gemessen an den rund 350.000 Jagdscheininhabern in Deutschland bildeten die hominiden Steinzeitjäger als "Teil einer tierischen Randpopulation" eine verhältnismäßig kleine Gruppe in einer menschenfeindlichen Umwelt. Hunger diktierte das Geschehen. Nur der Jagderfolg bedeutete Überleben.
In seinem bemerkenswerten Aufsatz über den Mammut-Blitzkrieg vermutet Hubert Suter ("Kampf der Rivalen"), der Urzeitmensch habe wohl eher seinen Nachbarn auf die Speisekarte gesetzt als ein wehrhaftes Mammut; denn schlussendlich führe Hunger zu einer Taubheit der Emotionen.
Wenn Hunger die Emotionen betäubt, ist auch der Umkehrschluss zulässig, meint Rainer Schmidt: "Jagdglück bewirkt das Gegenteil. Waidmannsheil ist die Wurzel der Kultur." Der Cro-Magnon war ein erfolgreicher Jäger. Er war kein Hungerkünstler. Er war ein Künstler, weil er nicht hungerte. Die ersten Künstler waren Jäger.
Leitbruch vom Pleistozän zum Holozän
Die Cro-Magnon lebten von der Jagd. Jederzeit liefen sie Gefahr, selbst zur Beute zu werden. Rainer Schmidt: "Selbst unter der Prämisse eines Durchschnittsalters von allenfalls 30 Jahren kommen bei einem täglichen Laufpensum von 40 Kilometern auf der Pirsch und bei Treibjagden bei Cro-Magnons mehr Strecke zusammen als der Herr Goethe in seinem langen Leben per Postkutsche, zu Pferd oder per pedes absolviert hat: magere 30.000."
Ihre jagdlichen Erfahrungen und ihr Jagdwissen verarbeiteten sie in den Tiefen geeigneter Höhlen: Natürliche Galerieräume ohne Heizung und Tageslicht. Die ersten Cro-Magnon Höhlenbilder hielten die Entdecker für zu echt, um keine Fälschung zu sein. Doch die Cro-Magnon waren gute Jäger. Sie waren gute Beobachter. Und sie verstanden es, ihre Beutetiere auf die Höhlenleinwände zu bringen – ganz wie im wahren Leben. Jagdmalerei war ein entscheidender Schritt in Richtung Kultur.
Vielleicht war der erste Strich an einer Höhlenwand mit einem Stück Holzkohle zunächst ein kleiner Schritt für den unbekannten Künstler. Bestimmt war es ein großer Schritt für die Menschheit. Die Höhle von Lascaux ist durchaus vergleichbar mit den großen Kathedralen des Mittelalters. Das erste Ren, das Cromagnon auf seiner Höhlenwand verewigte, markierte als Leitbruch jene Stelle, die vom Pleistozän zum Holozän und zu den ursprünglichen Jagdbildern von Rainer Schmidt führt. Von der Kunst, Beute zu machen, zur Beutekunst Wer malt erzählt. Hier werden Netzwerke geknüpft. Netzwerke sind notwendig für die Jagd, die Kunst, Beute zu machen. Sie sind aber auch notwendig für die Beutekunst: Einer konnte malen, ein anderer musste das Licht halten. Viele mussten das Gerüst erstellen, auf dem der Künstler unter der Höhlendecke arbeiten konnte. Die Farben gab es nicht an Ort und Stelle. Sie mussten transportiert und wahrscheinlich eingetauscht werden. Schon im Pleistozän gilt das genossenschaftliche Wir. Gespräch unter Künstlern Natürlich fragt sich jeder, so Schmidt, was diese Zeichnungen von Pferd bis Fisch, Bär bis Bison, Mammut oder Ren zu bedeuten haben. Und da stehen viele Antworten im Raum: Das Alphabet reicht von A wie Anschauungsunterricht – hier gab es die ersten Jagdschulen – bis Z zum Jagdzauber. Wer seine Beutetiere magisch bannt, hat Jagderfolg. Andererseits zeigt der Maler auch Respekt vor dem Geschöpf.
"Menschen reagieren auf fiktionale Ereignisse ebenso emotional wie auf das wirkliche Leben." Das hat die Wissenschaft herausgefunden. Das zeigen auch die aktuellen Tierstudien nach Art der Cro-Magnonkünstler von Rainer Schmidt: Die jagdliche Ansprache stimmt. Sie sprechen emotional an.
Wagen Sie einen Blick, meine Damen und Heren.
Doch was empfanden Herr und Frau Cro-Magnon, wenn sie in ihrer Höhle im Schein der Fackeln und Fettlampen die Tierbilder sinnlich erlebten? Schmidt: "Zweifellos haben sie die Tiere erkannt, die sich etwa hochflüchtig bewegten, und auf sie reagiert. Sie spürten Gefühle wie im richtigen Jagdleben."
Geballte Emotion. Gefühle wie im richtigen Jagdleben.
Die älteste Wildspeisekarte der Welt
Der Jagdschriftsteller Hans von Gaudecker spricht von Jagdzauber. Er ist davon überzeugt, dass die Jäger der Eiszeit in ihren Kultstätten etwa den Bärentanz tanzten, um das Zotteltier zu ehren und den Segen der Götter für eine glückliche Jagd herabflehten; denn davon hing es ab, ob die Sippe satt wurde.
Die Jünglinge des Stammes ahmten auch die Bewegungen des Bisons nach: Im Rhythmus des Tanzes stampften sie mit den Hacken wie die riesigen Steppenrinder. An dieser Stelle verweist von Gaudecker auf "die Bauernburschen in Süddeutschland", die mit ihrem Schuhplattler die Bewegung balzender Birkhähne nachahmten.
Rainer Schmidt vermutet: "Diese Bilder waren nicht nur jagdpädagogisch wertvoll. Für uns ist dies die mit Abstand älteste Wildspeisekarte der Welt."
Vielleicht sicherte Beutekunst nach Cro-Magnonart auch das Fortbestehen der Sippe; denn nur ein guter Jäger konnte solche lebendigen Bilder aus dem Kopf ohne Tageslicht auf den Felsen malen. Ein guter Maler musste ein verträglicher Mensch sein, um die notwendige Hilfe der Gruppe für seine Kunst zu bekommen.
Schmidt: "Gab es für Fräulein Cro-Magnon bessere Argumente als dieses gemalte Liebesgedicht, ihn zum Versorger und zum Vater ihrer Kinder zu machen?"
Wir alle, liebe Freunde, sind Cro-Magnons Urenkel.
Waidmannsdank!
Chapeau!
Nicht die Dinge ändern sich, sondern die Sicht auf die Dinge.
Ich hoffe, ich habe Ihre Sicht auf die Dinge da unten ein wenig geändert.
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